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Dissoziative Störung: 5 Menschen beschreiben ihre Erfahrungen - „das Gefühl, die Welt ist nicht real“

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Grafik mit Menschen, die dissoziative Störungen haben.
Menschen mit dissoziativen Störungen haben das Gefühl, sie würden sich selbst von Außen beobachten. © María Medem für BuzzFeed News

Dissoziativen Störungen haben mitunter massive Auswirkungen auf das eigene Leben: So fühlt es an, wenn du nicht Teil deines eigenen Körpers bist.

Stell dir vor, du bewegst dich in einem Nebel durch die Welt, kannst deinen Körper zwar kontrollieren, fühlst dich aber nicht vollständig in ihm – als würdest du als dritte Person ein Videospiel deines Lebens spielen. So erlebe ich meine Depersonalisation-/ Derealisation-Störung, eine dissoziative Krankheit, bei der ich mich fühle, als wäre mein Körper von meinen mentalen Prozessen und meiner Umgebung losgelöst.

Während Dissoziation dem Gefühl der Losgelöstheit entspricht, ist Depersonalisation das Gefühl, sich von sich selbst entfernt zu fühlen. Es ist, als ob man ein:e externe:r Beobachter:in des eigenen Körpers ist oder wie auf Autopilot agiert. Derealisation bedeutet, dass man sich von der Umgebung entfernt fühlt, als würde man in einem Traum oder Nebel leben, oder es gäbe ein imaginäres Kraftfeld, das einen von anderen Menschen trennt.

Dissoziative Störungen: Die Hälfte aller Menschen erlebt dissoziative Gefühle

Etwa die Hälfte aller Menschen erleben diese Gefühle mindestens einmal in ihrem Leben, aber zwei Prozent leiden an einer Depersonalisation-/ Derealisation-Störung und haben wiederholte und anhaltende dissoziative Episoden.

Mir ist eine wachsende Anzahl von Menschen aufgefallen, die dissoziative Störungen auf Social Media auf eine scherzhafte oder beiläufige Art erwähnen. Das ist sicherlich eine Möglichkeit, damit fertig zu werden und sich nicht mit der Realität der Welt auseinandersetzen zu wollen. Aber diese inflationäre Verwendung trägt auch zu Verharmlosung der Erkrankung bei. Wenn es ganz schlimm wird, schalte ich ab. Ich kann nicht mit meinen Liebsten sprechen oder irgendwas fühlen. Sex kommt nicht infrage, weil ich mich wie eine menschliche Hülle fühle. Es gibt monatelange Abschnitte meines Lebens, in denen ich mich frage, ob ich überhaupt jemals wirklich existiert habe.

Was ist Dissoziation eigentlich?

„Dissoziation ist eine normale und gesunde Reaktion auf Trauma, Stress, Langeweile oder Überforderung. Es ist unser Gehirn, das uns eine Pause verschafft“, sagt mir die klinische Sozialarbeiterin Andrea Gutiérrez-Glik. Der Grad der Dissoziation könne variieren. Um ihn zu messen, verwende sie die „Hinterkopfskala“, ein Instrument, das das Ausmaß der Derealisierung einer Person durch Handmessungen visualisiert. 

Deine Hand so weit wie möglich von deinem Gesicht entfernt zu halten, zeige, dass du dich präsent fühlst. Wenn du sie einen Zentimeter näher an dein Gesicht hältst, bedeute das, wie Gutiérrez-Gilk es ausdrückt: „Ich bin anwesend, aber vielleicht denke ich darüber nach, was es heute Abend zum Abendessen gibt.“ Wenn du die Hand noch ein bisschen näher an das Gesicht hältst, sagt sie, könnte das bedeuten: „Ich merke nicht, wie sich mein Körper anfühlt, und ich denke darüber nach, was ich später tun muss.“ Wenn du die Hand direkt an das Gesicht hältst, bedeute das, dass du dich des gegenwärtigen Moments nicht bewusst bist.

Patient:innen, die ihre Hand „hinter den Kopf“ halten würden, befänden sich im Bereich der Derealisierung, sagt Gutiérrez-Glik. „[Es ist das Gefühl] sich selbst zu beobachten, das Gefühl, in einer Ecke des Raums zu sein, völlig losgelöst von seinem Körper oder von sich selbst.“ 

Dissoziative Phasen können jahrelang andauern

Außerdem müsse man unterscheiden zwischen dem „Zoning out“, das die meisten Menschen kennen und einer stärkeren dissoziativen Erfahrung, bei der auch Gedächtnisverlust (dissoziative Amnesie) auftreten kann oder Patient:innen das Gefühl haben, „mehrere Selbstwahrnehmungen“ zu besitzen (dissoziative Identitätsstörung, früher multiple Persönlichkeitsstörung). Wenn jemand mit einer dissoziativen Störung ein anhaltendes Trauma erfährt, kann die Dissoziation „langwierig und automatisch“, und außerhalb der eigenen Kontrolle eintreten, wobei einige Leute berichten, dass sie wochen-, monate- oder sogar jahrelang in einer dissoziativen Phase feststeckten.

Dissoziation tritt bei Transgender und Minderheiten häufiger auf

Einige Studien in den Vereinigten Staaten zeigen, dass Menschen, die Transgender sind und/oder an Geschlechtsdysphorie leiden (mindestens dreimal häufiger als die allgemeine Bevölkerung), von dissoziativen Störungen betroffen sind. Außerdem haben Asiat:innen und POCs eine höhere Wahrscheinlichkeit, an dissoziativen Störungen zu erkranken, als weiße Menschen. 

Gutiérrez-Glik, die hauptsächlich mit LGBTQI+-Patient:innen arbeitet, sagt, dass häufige Vorfälle von Gewalt, einschließlich Anti-Homosexuellen-, Anti-Trans- und rassistischen Mikroaggressionen, sowie Diskriminierung dazu führen könnten, dass Menschen „das Gefühl haben, die Welt um sie herum ist nicht real oder dass man nicht wirklich darin lebt.“ Das durchschnittliche Alter für den Beginn der Depersonalisation ist 16. Betroffene Personen könnten aber auch seit der frühen Kindheit daran leiden. Bei weniger als 20 Prozent der Menschen tauchen erste Episoden der Störung erst nach dem 20. Lebensjahr auf.

Die klinische Sozialarbeiterin räumt ein, dass eine Therapie für viele unzugänglich ist. Trotzdem sei es wichtig, dass alle, die glauben, an einer dissoziativen Störung zu leiden, eine:n Psycholog:in konsultieren. So würden sie sehen, ob sie die Kriterien für eine Diagnose erfüllen. 

Ich habe fünf Menschen zu ihren dissoziativen Erfahrungen befragt

Viele der Leute, mit denen ich gesprochen habe, berichteten, dass es für sie einfacher war, mit anderen Störungen wie Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) diagnostiziert zu werden – selbst wenn sie dissoziative Symptome gegenüber den Ärzt:innen erwähnten. Einige stellten fest, dass viele Therapeut:innen nicht wissen, wie sie die dissoziativen Symptome behandeln sollten. Obwohl der Begriff nicht unbekannt ist, muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, damit das Bewusstsein um die Störung und ihre Behandlung größer wird.

Ich habe fünf Menschen, die meisten davon queer und femme, nach ihren dissoziativen Erfahrungen gefragt. (Ihre Antworten wurden aus Platz- und Prägnanz-Gründen überarbeitet.)

Lea*
(she/her), 25, Amerikanerin der ersten Generation mit koreanischen Wurzeln

In meinem ersten Jahr am College wurde bei mir PTBS diagnostiziert. Ich habe das damals mit dem sexuellen Übergriff auf mich auf dem Campus begründet. Aber ich glaube, meine dissoziative Störung hat eigentlich schon früher begonnen. Ich denke, es hatte mit dem enormen Druck zu tun, den ich auf mich selbst ausgeübt habe, um in eine Ivy League-Uni [Die acht Elite-Universitäten der USA, Anm. d. Red.] zu kommen.

Ich wollte nicht, dass meine Mutter, die in jungen Jahren in dieses Land eingewandert war und in einer arrangierten Ehe gelebt hatte, das Gefühl bekommt, als hätte sie ihr Leben verschwendet. Viele Kinder mit Migrationshintergrund werden diese Form der Dissoziation verstehen, denn ihr ganzes Leben dreht sich um Trennung und Entfremdung, das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören. Dies sind ähnliche Gefühle wie Dissoziation.

Ich war sehr davon überzeugt, dass ich nicht existiere.

Lea, 25

Mein Vater hat eine schizoaffektive, bipolare Störung, und das hat mein Verständnis der Realität und dessen, was ein „normaler Mensch“ ist, stark beeinflusst. Meine Mutter meinte immer zu mir: „Kein Wunder, dass du Angst hast, dein Vater greift dich eines Tages willkürlich an oder sagt dir, dass du nicht sein Kind bist, und am nächsten Tag ist er wieder nett zu dir.“ Sie wollte sich nicht in psychische Behandlung begeben und wusste nicht, wie sie erklären sollte, was da passiert. Darunter haben mein Bruder und ich sehr gelitten.

„Es ist, als ob jemand versucht, dich davon zu überzeugen, dass der Himmel nicht blau ist“

Nachdem ich Hilfe und Medikamente bekommen hatte, habe ich erfahren, dass meine schwerste Depersonalisation-Episode in eine Psychose übergegangen war. Es war in meinem Junior-Jahr [am College]: Ich ging die Straße entlang und plötzlich fing ich an zu weinen und fühlte es nicht einmal. Ich war sehr davon überzeugt, dass ich nicht existiere. Wenn du dich dissoziierst, fühlt sich etwas falsch an, aber es gibt immer noch diese Verbindung zum Kopf, die dich daran erinnert, dass etwas nicht stimmt. Wenn du psychotisch bist, bricht diese Verbindung ab. Es ist, als ob jemand versucht, dich davon zu überzeugen, dass der Himmel nicht blau ist, aber du weißt, dass er blau ist. Plötzlich war der Himmel nicht mehr blau. Es waren die schlimmsten Stunden meines Lebens.

Seitdem sind Heilung und Bewältigung das Wichtigste. Ich habe drei Jahre ambulante Intensivbehandlung hinter mir. Ich war in stationärer Therapie. Die Schwere meiner psychischen Erkrankung wird immer dafür sorgen, dass ich, auch wenn ich alle psychoanalytischen Gründe für meinen Zustand kenne, dennoch mit den Nachwirkungen fertig werden muss. 

Der beste Weg, den ich gefunden habe, um damit fertig zu werden, ist Wasser. Foucault spricht darüber in „Madness and Civilization“. Er zeichnet die Geschichte der Verwendung von Wasser nach, um mit psychischen Erkrankungen und Dysregulation fertig zu werden. Warme Duschen, in der Nähe von Wasser zu sein, zuzuhören und es spüren, ist für mich eine der einzigen Möglichkeiten, aus einer dissoziativen Episode herauszukommen.

Alexis
(she/her), 21, Person of Color, New York, BWL-Studentin

Ich erinnere mich damals, als ich ungefähr 14 war, verließ ich meine Highschool und befand mich dann, ein oder zwei Stunden später, mitten in meinem Therapietermin wieder, ohne mich an irgendetwas dazwischen zu erinnern. Ich führte intensive Gespräche mit meiner Mutter, war auf Social Media, aber ich war einfach nicht wirklich anwesend. Diese Episoden traten ein paar Mal pro Woche und gelegentlich ein paar Mal am Tag auf. Es war, als ob mein Körper auf Autopilot lief und mein Gehirn ohnmächtig war, als hätte es jemand geschlagen. 

Ich hatte damals auch viele Selbstmordgedanken. Meine dissoziative Störung wurde nie diagnostiziert, aber ich hatte mehrere Psychiater:innen, die mir sagten, dass meine Symptome für Menschen mit Depressionen, Angstzuständen, ADHS und Borderline-Persönlichkeitsstörung üblich seien. Später sah ich Posts auf Instagram über dissoziative Störungen und ihre Beziehung zu Angstzuständen und Depression – es machte schließlich Klick.

Als ich 15 war, wollte mein Psychiater mich als Borderlinerin diagnostizieren, also verbrachte ich viele Jahre damit, an dieser Identität festzuhalten. Als ich aufwuchs, hatte ich eine Identitätskrise, weil ich ein dickes schwarzes Mädchen aus der Mittelschicht war, das auf eine Privatschule in der Upper-East-Side ging, wo es buchstäblich wie in „Gossip Girl“ zuging. Vom ersten Tag an wurde ich von den anderen Mädchen gemobbt – sei es wegen meiner Ethnie, meiner Größe oder dem Status meiner Familie. 

Adoptionstrauma: Es ist wichtig zu wissen, woher man kommt

Außerdem wusste meine Familie (als People of Color in Amerika) nie wirklich, woher sie kam, und als ich fragte, sagten meine Eltern „aus dem Süden“. Sie wussten es nicht mehr, weil ihre Eltern oder Vorfahren es auch nicht wussten.Dann erfuhr ich, dass ich adoptiert worden war. Ich dachte, ich weiß nicht nur nicht, wer ich bin, ich war auch nie die, für die ich mich hielt, also niemand. Ich hatte immer das Gefühl, dass es diese fehlende Verbindung zwischen mir und meiner Adoptivmutter gab, als wäre es ein Puzzleteil, das einfach nie in der Puzzle-Box war. Seitdem habe ich Kontakt zu meiner biologischen Mama, was toll ist, und ich habe zwei kleine Geschwister, die wunderbar sind. 

Aber ich habe gelernt, dass alle Adoptierten irgendeine Form von Adoptionstrauma haben. Ich habe aktiv nach Gruppen von Adoptierten gesucht. Für mich ist es mehr als nur einen People-of-Color-Space, einen Black-Space oder einen Black-Queer-Space zu haben, sondern eine Gruppe von Menschen, die verstehen, wie es ist, nicht wirklich zu wissen, woher man kommt. Jetzt bin ich ehrlich froh, dass alles so gekommen ist, wie es gekommen ist, und ich möchte niemand anderes sein. Ich liebe diese Version von mir.

Clare*
(they/them), 23, Amerikaner:in der zweiten Generation mit chinesischen Wurzeln, New York

Das erste Mal, als ich Dissoziation erlebte, war als ich 16 und im Junior-Jahr der Highschool war. Ungefähr zu dieser Zeit wurde mir klar, dass ich nicht-binär bin. Die meiste Zeit meines Lebens verband ich mit der Geschlechterrolle der „Frau“ nur Einschränkung in Bezug auf mein Aussehen und mein Verhalten. Ich ging in der Schule ins Badezimmer und sah mich im Spiegel an: Wer ist das? Heute denke ich zurück und erkenne: Oh, ich war den größten Teil desr Zeit nicht wirklich in meinem Körper.

Im College entwickelte ich Probleme mit Marihuana und Alkohol, weil ich versuchte, meine körperliche Erfahrung der Welt weniger schmerzhaft zu machen. 2017 hatte ich eine schlimme Phase. Ich saß in einem Café, gestresst und seit Tagen ohne Schlaf, und plötzlich hatte ich das Gefühl, über meinem Körper zu schweben und mich nicht bewegen zu können. Danach ging ich zu einem:r Psychiater:in – die Lage war ernst.

Mir wurde klar, dass ich langfristige Bewältigungsmechanismen finden musste, also begann ich mit Yoga und Buddhismus. Beides hat mich gelehrt, dass es eine tiefe Verbindung zwischen Geist, Kopf, Körper und Seele gibt. Interessanterweise führte die Dissoziation auch dazu, dass ich mir von 2016 bis heute viele Tattoos stechen ließ, was mir die Kontrolle über meinen Körper zurückgab.

Dissoziation macht sexuelle Erfahrungen oft traumatisierend

2018 wendete sich das Blatt für mich: Mir wurde klar, dass ich Schriftsteller:in werden wollte, also fing ich an, meine Energie in das Tagebuch schreiben und lesen zu stecken – Dinge, die mir das Gefühl gaben, dass mein Leben mehr mein eigenes war. Seit Kurzem mache ich eine Achtsamkeit-Therapie und Emotionsregulation-Therapie. Es ist mir auch sehr wichtig geworden, meine Erfahrungen mit anderen zu teilen, insbesondere mit Transmenschen. Dissoziation kann sexuelle Erfahrungen traumatisierend für uns machen – das ist schmerzhaft, denn in der amerikanischen Kultur hat Sex eine sehr wichtige Stellung.

Ich denke, Rassismus kann, zumindest bei asiatischen Amerikaner:innen, zu Dissoziation führen. Orientalismus ist in den Geschichtsunterricht und die amerikanische Kultur eingebaut, sodass es leicht ist, den eigenen Körper und dich selbst im Hinblick darauf zu sehen, was die weiße Gesellschaft von dir erwartet. Für People of Color und Asiat:innen gibt es in diesem kapitalistischen System die Erwartung, Arbeit für Weiße zu verrichten, was auf Sklaverei und Zwangsarbeit zurückzuführen ist.

Holly
(she/her), 23, weiß, Deutschland, Studentin

In meinen ersten klaren Erinnerungen, bei denen ich sicher war, dass ich dissoziierte, war ich ungefähr zwölf oder 13 Jahre alt. Ich glaube, ich hatte die dissoziative Störung schon viel länger, aber zu dieser Zeit machte die Trennung meiner Mutter und meines damaligen Stiefvaters es noch schlimmer. Die Episoden wurden länger. Ich wollte nicht, dass die Dinge real sind, also fühlte ich sie einfach nicht so, als ob sie real wären. Irgendwann, vor ungefähr acht Jahren, ging es nicht mehr wirklich weg. Es war einfacher, die Momente zu bemerken, in denen ich mich nicht von meinem Körper losgelöst fühle. Ich bin jetzt seit ungefähr drei Jahren in Therapie bei ein:er Therapeut:in und mag die Person sehr.

Ich wollte nicht, dass die Dinge real sind, also fühlte ich sie einfach nicht so, als ob sie real wären.

Holly, 23

Mein Lieblingsbeispiel dafür, wie man Dissoziation beschreibt: Wenn man sich in einem Traum befindet und weiß, dass er nicht real ist, aber man auch nicht die volle Kontrolle darüber hat. Es ist dieses sehr vage Gefühl von Surrealität. Die Distanz von meinen eigenen Emotionen. 

Dissoziative Störungen: In Deutschland erkennen die Menschen das Problem nicht an

Wenn es eine sehr starke Episode ist, versuche ich, mich auf meine Sinne zu konzentrieren, also fasse verschiedene Oberflächen an, zünde eine Duftkerze an oder gehe nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Manchmal hilft es, Kniebeugen zu machen. Oder manchmal gebe ich einfach auf, mache ein Nickerchen und versuche es von vorne. Darüber zu reden macht es manchmal nur noch schlimmer.

Ich glaube nicht, dass sich die Menschen in Deutschland wirklich bewusst sind, dass einige mit Dissoziation zu kämpfen haben. Dissoziation ist etwas, das die Leute nicht wirklich bemerken. Ich sage dann nur: „Mir geht es nicht gut. Ich fühle mich schwach, ich muss nach Hause.“ Es ist schwer zu erklären, dass es wirklich ein Problem ist, weil es nicht so schlimm klingt. Es kommt rüber, als ob man nur ein wenig neben der Spur oder unkonzentriert wäre. Besonders besch*ssen ist das in Situationen, in denen du glücklich bist und dich gerne an alles erinnern möchtest.

Danya
(she/her), 24, Aotearoa (Neuseeland), taiwanesische Tauiwi

Ich fing schon in sehr jungen Jahren an, mich zu distanzieren, und ich merkte nicht, wie gut ich darin war, bis ich erwachsen wurde. Es war der perfekte Mechanismus: Ich hatte das Gefühl, ich könnte mit einer Autopilot-Version von mir selbst klarkommen. Ich war ein ziemlich ängstliches Kind und hatte schon in jungen Jahren mit Depressionen zu tun, auch aufgrund von Traumata und Wutproblemen vonseiten meines Vaters.

In der Uni findest du heraus, wer du wirklich bist, und zu diesem Zeitpunkt wurde es für mich ziemlich schwierig. Mein Vater wurde körperlich gewalttätig. Darauf folgte eine lange Zeit, in der ich einfach abgeschaltet habe. Ich konnte mich nicht mehr an grundlegende Sachen erinnern, zum Beispiel was ich gestern getan oder was ich zum Frühstück gegessen hatte. Ich dachte immer wieder: Warum komme ich nicht darüber hinweg? Manche Menschen haben es noch viel schlimmer. Aber während ich die Therapie machte, habe ich gelernt, dass das Anerkennen des eigenen Schmerzes nicht den Schmerz anderer Menschen nimmt. Es ist der erste Schritt auf dem Weg zur Heilung.

Mit einem Tagebuch gegen die Depression und Dissoziation

Meine Therapeutin, die halb Maori, halb Inderin ist, gab mir ein Maramataka-Tagebuch, es zeigt die Zeitrechnung auf Maori-Art, basierend auf dem Mondkalender. Darin werden dir drei Fragen gestellt: „Was geht in deinem Kopf vor? Was ist los in deiner Umgebung? Was geht in deiner Gemeinschaft vor sich?“ Ich denke, dieses Dokumentieren ist so hilfreich, denn wenn du dissoziierst, erkennst du nicht, wie viel du unterbewusst von der gegenwärtigen Welt aufnimmst. Wir befinden uns gerade in einer Pandemie, kein Wunder, dass es sich ein bisschen wie ein bevorstehender Untergang anfühlt.

Bei mir wurde Depression diagnostiziert, aber bei mir wurde nie Dissoziation diagnostiziert. Meine Therapeutin, die mir [in Sitzungen] gesagt hat, dass ich dissoziiere, verwendet hierbei nicht das Pākehā-Diagnosemodell. [Es kann] in vielerlei Hinsicht sehr hilfreich sein, aber es hängt davon ab, was dein:e Therapeut:in oder [medizinisches Fachpersonal] mit diesen Informationen anfangen kann. 

*Aus Datenschutzgründen verwenden wir Pseudonyme für diese Betroffenen.

Autorin ist Michelle Hyun Kim. Der Artikel erschien am 23. März 2022 auf buzzfeednews.com. Aus dem Englischen übersetzt von Max Kienast.

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