Migrationsexpertin Kohlenberger: „Ankünfte in Italien werden Österreich weniger betreffen“

Zwei NGO-Schiffe mit 436 Flüchtenden erreichen Sizilien. Was das für Europa und Österreich bedeutet, erklärt Expertin Judith Kohlenberger.
Die Rettungsschiffe „Sea Watch 3“ und „Mare Jonio“ aus Deutschland bzw. Italien haben am Donnerstag von den italienischen Behörden die Erlaubnis erhalten, einen Hafen in Sizilien zu erreichen. Auf den beiden Schiffen humanitärer Organisationen befinden sich insgesamt 436 Geflüchtete. Alleine auf „Sea Watch 3“ sind 118 davon Minderjährige. Die meisten Geflüchteten stammen aus Tunesien, Pakistan, Syrien und dem Sudan.
Die wieder steigende Anzahl geflüchteter Menschen sorgt für Spannungen in der italienischen Regierung. Weiten sich die Sorgen bald auch schon ins restliche Europa aus? Kulturwissenschafterin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger (Wirtschaftsuniversität Wien) - ihr neues Buch „Fluchtparadox“ erscheint im August - erklärt gegenüber BuzzFeed Austria, was bei der Seenotrettung alles schiefläuft und was die nach Italien flüchtenden Menschen für Österreich bedeuten.
Frau Kohlenberger, welchen Stellenwert haben NGOs wie Sea Watch bei der Seenotrettung flüchtender Menschen? Sollte das nicht eigentlich die Aufgabe der europäischen Regierungen sein?
Nicht nur, dass NGOs wie Sea Watch die Rettung von Ertrinkenden übernehmen, die eigentlich in die Zuständigkeit staatlicher Küstenwache fällt - sie werden dafür auch zunehmend kriminalisiert. Man denke nur an die Worte des damaligen Außenministers Sebastian Kurz (ÖVP), der bei seinem Besuch der Frontex-Mission im Mittelmeer die Rettungsaktionen von NGOs als „Wahnsinn“ und diese als „Partner der Schlepper“ bezeichnete. Auch Debatten in deutschen Medien unter dem Titel „Oder soll man es lassen?“, unter dem im Warmen und Trockenen sitzende Journalist:innen das Pro und „Kontra“ von Seenotrettung diskutieren, sind der wichtigen Arbeit von NGOs nicht zuträglich. Studien zeigten deutlich, dass entgegen populistischer Meinungsmache die Seenotrettung nicht zu einem Anstieg von Überfahrten übers Mittelmeer führt und somit kein angeblicher Pullfaktor ist. Solange globale Krisen und Konflikte anhalten, solange es keine legalen Fluchtmöglichkeiten und Migrationsalternativen gibt, etwa in Form von zirkulärer Migration durch Arbeits- oder Studierendenvisa, wird diese Situation anhalten bzw. noch weiter zunehmen.
Laut dem italienischen Innenministerium sind seit Anfang 2022 über 20.000 Menschen nach Seefahrten über das Mittelmeer in Italien angekommen. Im letzten Jahr waren es zur selben Zeit 14.962 gewesen. Was bedeutet das für Österreich in naher Zukunft?
Man kann die Asylantrags- und Ankunftszahlen während Pandemie, Lockdowns und einem generellen Rückgang der globalen Reise- und Wanderbewegungen nur sehr bedingt mit den jetzigen vergleichen. Die weitgehende Lockerung aller Restriktionen ist auch der Grund, warum bereits jetzt die Asylantragszahlen in Österreich steigen. Die Ankünfte in Italien werden Österreich aber weniger betreffen, weil es noch keinen Verteilungsautomatismus in der Europäischen Union (EU) gibt und somit Mitgliedsstaaten mit Außengrenzen nicht auf die Unterbringung der Ankommenden in anderen Ländern hoffen können. Dennoch werden auf dem Landweg auch mehr Geflüchtete nach Österreich kommen. Wir dürfen nicht vergessen, dass weltweit Krisen- und Konfliktherde in den letzten Monaten und Jahren zugenommen haben - denken wir an die Ukraine, Afghanistan und den Bürgerkrieg in Syrien, der noch immer nicht befriedet ist. Der durch Corona entstandene Rückstau baut sich nun langsam ab. Auch die Folgen der Klimakrise sind im Globalen Süden zunehmend spürbar und können zu Konflikten um rarer werdenden fruchtbaren Grund und Boden führen, wodurch wiederum Fluchtbewegungen ausgelöst werden - mitunter auch transkontinentale. Für Österreich bedeutet das: Die Fluchtbewegung aus der Ukraine wird sicherlich nicht die letzte sein, die wir bewältigen müssen.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf die Geflüchtetenpolitik der österreichischen Regierung? Das erklärt Migrationsforscherin Kohlenberger gemeinsam mit Andrea Barschdorf-Hager, Geschäftsführerin von CARE Österreich, im Interview mit BuzzFeed Austria.