Fast jeder dritte Mensch in Wien darf nicht wählen - was können wir dagegen tun?

Fast ein Drittel der Menschen in Wien darf nicht wählen. Wie man sich trotzdem politisch beteiligen kann und warum die Migrationspolitik in Österreich so vergiftet ist, erklärt euch der Politikwissenschafter Vedran Džihić.
Es sind Zahlen, die einen im ersten Moment beinahe vom Hocker hauen: In Wien dürfen mehr als 30 Prozent der Bevölkerung ab 16 Jahren nicht an Wahlen teilnehmen. Bei den Wiener Gemeinderatswahlen 2020 waren das eine halbe Million Menschen, wie eine Datenauswertung der Austria Presse Agentur (APA) und des Markt- und Meinungsforschungsinstituts OGM ergeben hat. Einer der Gründe ist das in Österreich geltende Staatsbürgerschaftsgesetz, das zu den strengsten in ganz Europa gehört. Viel zu lange Wartezeiten, eine komplizierte Beantragung und hohe Kosten machen es den Menschen, die es versuchen, nicht einfach, die österreichische Staatsbürgerschaft tatsächlich zu erhalten. Laut Statistik Austria waren es im Jänner 2021 bereits 711.983 Menschen in Wien, die nicht die österreichische Staatsbürgerschaft haben. In ganz Österreich rund 1,8 Millionen. Wie geht es Menschen, die teilweise sogar ihr gesamtes Leben in einem Land verbringen, jedoch an Wahltagen zu Hause bleiben müssen?
Jemand, der sich mit diesem Thema genau beschäftigt, ist der Politikwissenschaftler Vedran Džihić. Er ist Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip) und lehrt am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien und an der Universität für Angewandte Kunst. Vor Kurzem veröffentlichte Džihić eine Studie, die die politische Teilhabe von türkischen und serbischen Migrant:innen in Wien untersucht hat. Wir wollten vom Politikwissenschafter wissen, wie man politisch aktiv sein kann, selbst wenn man selbst nicht wählen darf und was die österreichische Politik besser machen müsste.
Herr Džihić, vor Kurzem ist bei einer Diskussionsveranstaltung, an der auch Sie teilnahmen, die Aussage gefallen: „Es ist so schwer, von einer Demokratie zu sprechen, wenn so viele Menschen nicht wählen dürfen.“ Ganz direkt gefragt: Leben wir überhaupt in einer Demokratie?
Ich würde die österreichische Demokratie nicht infrage stellen. In Österreich und im restlichen Europa gibt es aber Krisenerscheinungen, die für ein demokratisches System bedenklich sind. Eines der Probleme ist sicherlich die Repräsentation. Also wer sich am Entscheidungsprozess beteiligen kann und wer davon ausgeschlossen wird. Daraus kann sich für die gesamte Demokratie und das gesellschaftliche Leben in ihr eine Gefahr bilden. Auf das wollten wir mit unserer Studie hinweisen.
Sie haben sich mit der politischen Teilhabe von türkischen und serbischen Migrant:innen in Wien auseinandergesetzt und gemeint, dass Politik und die Teilhabe daran nicht nur als Beteiligung an Wahlen verstanden werden sollte. Was meinen sie damit?
In jeder Demokratie sind die Möglichkeiten der Beteiligung vielfältig. Es gibt Zivilgesellschaftsorganisationen, man kann Proteste auf der Straße organisieren oder auch in Vereinen tätig sein. Bei den Jüngeren spielt vor allem Social Media eine wichtige Rolle, dort bildet sich gerade eine neue demokratische Öffentlichkeit. Was wir in unserer Studie dennoch sagen: Wir brauchen eine Erweiterung der politischen Beteiligung. Es müssten noch mehr Foren geschaffen werden, damit jene Menschen, die am Wahltag nicht wählen dürfen, nicht automatisch aus dem politischen Prozess herausgenommen werden.
Gab es am Ende ihrer Forschung bestimmte Erkenntnisse, mit denen Sie anfänglich nicht so gerechnet hätten?
Was uns doch etwas überrascht hat, war, dass es in jungen Menschen ein neues Selbstbewusstsein gibt und dass sie sich zu diesem Land sehr wohl zugehörig fühlen. Im Laufe unserer Studie haben wir uns auch migrantische Entrepreneurs angesehen. Das sind jüngere Menschen, die die Initiative selbst ergreifen, Plattformen bauen und Vereine gründen. Sie treten mit einem Selbstverständnis auf und sagen, dass Österreich auch ihr Land sei. Selbst ohne Zugang zu Wahlen gestalten sie und lassen sich davon nicht abweichen. Das ist sehr positiv und die Politik könnte auf diese Menschen durchaus verstärkt zugehen.

Wenn wir einen Blick auf die Politik in der Türkei und Serbien werfen, zeigt sich, dass sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und der serbische Präsident Aleksandar Vučić immer weiter von liberalen demokratischen Werten entfernen. Wie wirkt sich das auf diese migrantischen Gruppen in Wien aus?
In unserer Studie gehen wir davon aus, dass sich das Leben von Menschen mit migrantischem Vorder- oder Hintergrund sowohl in der Herkunfts- als auch Aufnahmegesellschaft abspielt. Es gibt also eine doppelte Rückwirkung. Bei manchen hat die Entwicklung in den Herkunftsstaaten einen stärkeren Einfluss, da sie sich zum Beispiel vom politischen Stil der Regime in der Türkei und Serbien angesprochen fühlen. Diese beiden Länder haben natürlich eine sehr starke Diaspora-Politik. Das bedeutet, dass die Herkunftsländer unter anderem versuchen, ihre Vereine in anderen Ländern zu bespielen oder Veranstaltungen zu organisieren. Die Nachricht ist klar: „Ihr seid vor allem Türken und Türkinnen bzw. Serben und Serbinnen und dürft euch an euer neues Land nicht zu stark anpassen.“ Dieser Bezug zum Heimatland geht aber auch in die andere Richtung. Vor allem Menschen jüngeren und mittleren Alters gehen sehr stark in eine direkte Opposition zu diesen beiden Regimen. Was aber nicht vergessen werden darf: Durch die Coronapandemie ist dieser Bezug zur Heimat wieder viel stärker geworden. Wenn man nämlich kein Vertrauen in die Regierung aufbauen kann, sucht man sich eben andere Anhaltspunkte, die Stabilität bieten. Das können Verschwörungstheorien sein, aber auch die Politik und die allgemeine Haltung im Herkunftsland.
Und in Österreich gibt es mit der ÖVP und vor allem der FPÖ ja zwei Parteien, die immer wieder versuchen, migrant:ische Gruppen als Sündenböcke darzustellen.
Das verstärkt das natürlich. Auf der einen Seite Misstrauen in den Staat. Wenn man dann noch sieht, wie man von den höchsten Vertreter:innen des Landes immer wieder eher als Problem betrachtet wird, kann das bei Migrant:innen natürlich zu Trotzreaktionen führen.
In Ihrer Studie schreiben Sie, dass eine vollständige Integration niemals erfolgen könne. Sie beziehen sich dabei auf die „Entweder-Oder“-Logik. Was meinen Sie damit genau?
Man hat einen ständigen Mangel, den man versucht, durch Integrationsleistung auszubügeln. In Österreich wird von Migrant:innen ständig verlangt, sich anzupassen. Selbst wenn jemand 30 Jahre hier lebt, einen Beruf hat und Steuern zahlt, wird immer noch irgendwas Negatives gefunden - und wenn es nur so etwas Einfaches wie der Nachname ist. Wie ein Kollege von mir kürzlich gesagt hat: „Die österreichische Politik hat den Integrationsbegriff in den letzten Jahren vergiftet.“ Der Fokus der politischen Debatte richtet sich dabei immer auf diejenigen, die sich aus der Sicht des Staates nicht vollständig anpassen. Auf der anderen Seite ist dann das Gefühl der Ausgeschlossenheit. Das ist eine gefährliche Spirale und ein demokratiepolitisches Problem.
Deutschland zeigt vor, wie es gehen könnte
Als Teil einer fortschrittlicheren Migrationspolitik plant die neue Regierung in Deutschland neue Gesetze. Die Doppelstaatsbürgerschaft soll möglich und die Erfordernisse für einen Antrag zur deutschen Staatsbürgerschaft vereinfacht werden. Einbürgerungen sollen schon nach fünf Jahren möglich sein, bei besonderen Leistungen bereits nach drei. So steht es in einem Papier der Regierungsparteien SPD, Grünen und FDP.
Was könnte die Politik in Österreich ganz einfach und schnell durchsetzen, damit Migrant:innen künftig ebenfalls Mitspracherecht bei der politischen Gestaltung unseres Landes haben?
Erstens könnte man ganz einfach mit diesem ständigen Problematisieren der Migration aufhören und das Ganze viel mehr als eine Bereicherung ansehen. Genauso wichtig und leicht umsetzbar wäre eine Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes. Man muss nur nach Deutschland blicken, wo das Gesetz besonders für Jugendliche aufgeweicht wurde und man Möglichkeiten geschaffen hat, um das Gefühl der Akzeptanz zu vermitteln. Das Staatsbürgerschaftsgesetz in Österreich ist sehr restriktiv. Die Politik in Österreich könnte das leicht verbessern und diese Menschen stärker zu sich ziehen. Noch eine Sache, die man wirklich angehen müsste, ist die bürokratische Ebene. In Wien gab es ja das Chaos mit der Einwanderungsbehörde MA 35, wo laut ORF bereits im Juli mehr als 400 Beschwerden eingelangt sind. Hier wurden Menschen schikaniert und man war nicht transparent. Eine Verbesserung der Bürokratie wäre eigentlich einfach umzusetzen.