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Wiebke Winter ist seit Januar 2021 das jüngste Mitglied des CDU-Bundesvorstands. Sie ist Medizinrechtlerin und setzt sich seit Jahren für kostenfreie Verhütungsmittel ein. Für die Abschwächung vom Paragrafen 2019a machte sie sich immer wieder stark. BuzzFeed News DE fragt sie, was sie von Ulrike Scharfs Vorhaben einer Verfassungsklage hält. Winter will die Klage der CSU zwar nicht bewerten, glaubt aber, eine Verfassungsklage sei bei diesem Thema unvermeidlich.
Aktuell könne man es vereinbaren, das Leben eines Fötus bis zum dritten Monat zu beenden, weil es ein „Anwachsen der Menschenwürde“ gebe. „Im Grundgesetz ist unser Recht auf Menschenwürde und Leben verankert. Das Recht gilt auch für das ungeborene Leben. Je weiter sich ein Fötus entwickelt, desto stärker wirkt dieses Recht“, so Winter.
Um der Würde dieses ungeborenen Lebens Ausdruck zu verleihen, sei der Paragraf 218 ins Strafgesetzbuch verlagert worden. Darüber könne man sich streiten. „Ich kann nachvollziehen, dass man als Nicht-Jurist zunächst verwundert ist, warum der Schwangerschaftsabbruch im Strafgesetzbuch geregelt ist. Bislang kenne ich jedoch keine juristische Lösung, die dem Recht des heranwachsenden Menschen auf Würde und Leben außerhalb des Strafrechts gleichermaßen Rechnung tragen würde“ sagt Winter.
„Schwangerschaftsabbrüche könnten womöglich in einem anderen Gesetz strafrechtlich geregelt werden, so wie es auch Regelungen im Embryonenschutzgesetz gibt. Allerdings frage ich mich, was das für einen Unterschied macht. Zudem zeigt das StGB die hohe Bedeutung, die wir auch schon heranwachsendem Leben zubilligen“, sagt Winter zu BuzzFeed News DE. Sie glaubt, Menschen, die Abtreibungsärzt:innen bedrohen, seien für Schwangere eher ein Problem, als das Strafgesetzbuch. Und die würde die Streichung von Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch nicht interessieren, glaubt Winter.
Hier zeigt eine Fotografin, wie Abtreibungen wirklich aussehen.
„Ich wünsche mir, dass man mehr über Schwangerschaftsabbrüche spricht und Frauen sich wegen eines Abbruchs nicht stigmatisiert fühlen. Deswegen habe ich mich auch immer für die Abschwächung von Paragraf 219a StGB eingesetzt. Zudem sollte häufiger die Möglichkeit im Medizinstudium geboten werden, über Schwangerschaftsabbrüche zu lernen und darüber zu sprechen. Wir sehen nämlich, dass es in vielen Bereichen Deutschlands zu wenig Ärztinnen und Ärzte gibt, die Abbrüche vornehmen“, so Winter. Sie glaube fest daran, dass keine Frau leichtfertig abtreibe.
„Das ist meine Meinung, zu der stehe ich, auch wenn es natürlich Menschen gibt, die anderer Meinung sind.“ Das sei ja das Gute an einer Volkspartei wie der CDU – dass Menschen unterschiedliche Meinungen haben. „Das ist Demokratie in ihrer Reinform“, so Winter. Sie sei jedoch auch der Meinung, dass man sich innerhalb von drei Monaten entscheiden sollte, ob man ein Kind austragen will oder nicht. „Dass man als Frau geboren wird und die Bürde einer solchen Entscheidung potenziell tragen müsse, fühlt sich womöglich nicht immer fair an – aber so ist es eben.“
Winter stört sich daran, dass man die Diskussion um Schwangerschaftsabbrüche mit dem Wort „Austragungspflicht“ in eine bestimmte Richtung lenke. „Ich finde, die Paragrafen 218 ff StGB sind kein schlechter Kompromiss, um diesen Konflikt juristisch abzudecken. Man regelt Abbrüche zwar im StGB, allerdings ist ein Abbruch regelmäßig entweder nicht rechtswidrig oder straflos, sodass er strafrechtlich für die Frau unerheblich ist – damit kann man den Spagat zwischen den Grundrechten hinbekommen.“
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Dass CSU und CDU-Politiker:innen sowie Medien beim Thema Abtreibungen immer von einem „Kompromiss“ sprechen, kritisiert die Juraprofessorin und Verfassungsrechtsexpertin Ulrike Lembke: „Es gibt den Mythos, man habe 1995 einen Kompromiss gefunden, mit dem doch alle zufrieden seien. Das ist falsch. Den Kompromiss hatte der Bundestag 1992 beschlossen. Und Bayern hat ihn 1993 in Karlsruhe kippen lassen“, sagt die ehemalige Verfassungsrichterin, die heute an der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin lehrt.
Komme es zu einer erneuten Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht, sei es wichtig, mehr über die Beziehung vom Staat zur Schwangeren zu sprechen. „Es wird oft so getan, als gehe es nur um die Beziehung des Staates zum Embryo, dem gegenüber er eine Schutzpflicht hat. Aber es geht auch um die Beziehung vom Staat zur Schwangeren, der unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen auferlegt wird, jede – auch ungewollte – Schwangerschaft auszutragen. Die Bewertung als unverhältnismäßig liegt nahe.“
Bei der ersten Entscheidung 1975 haben sich die Richter:innen diese Beziehung nicht angeschaut, so Lembke. 1993 hätten sie dies recht erfolgreich vermieden. „Das Urteil von 1993 enthält einerseits große ethische Leitlinien, dann wieder ist es sehr detailverliebt, insgesamt ungewöhnlich inkonsistent. Es dürfte eine der schwierigsten Entscheidungen in Karlsruhe gewesen sein.“ Sie sei wie die erste Entscheidung auch nicht einstimmig gewesen. „1975 fiel die Entscheidung mit sechs zu zwei Stimmen, 1993 mit fünf zu drei“, so Lembke.
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Lembke sieht die Streichung von Paragraf 218 noch nicht in unmittelbarer Nähe. Momentan setze die Ampelkoalition erst noch eine Kommission ein, bis die Ergebnisse habe, könne es noch dauern. „Deswegen ist die frühzeitige Ankündigung der CSU Bayern, in einigen Jahren das Bundesverfassungsgericht anzurufen, eher als politische Aktion zu werten.“ Würde der Paragraf gestrichen, dann sei es aber das gute Recht der bayerischen Landesregierung, in Karlsruhe die „abstrakte Normenkontrolle“ zu erheben.
Die Verfassungsrechtlerin merkt jedoch an: „Mir sind keine Expert:innen bekannt, die Paragrafen 218 ff einfach nur aus dem Strafgesetzbuch streichen wollen. Vielmehr sollte Abtreibung umfassend im Gesundheitsrecht geregelt sein, für Schwangere wie für Ärzt:innen.“ Dies betreffe ärztliche Standards, Schwangerschaftsabbruch als Kassenleistung, kostenlose Verhütungsmittel, Sexual- und Familienberatung, aber auch die Regelung sogenannter Spätabbrüche nach der 22. Woche. Ein paar dieser Standards sind in anderen Ländern wie Spanien gängig, das für unsere Autorin als Frau gerade zu einem Traumland wird.
Letztlich sei nicht abzusehen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden werde. Bei den vergangenen beiden Urteilen sei viel mit „natürlicher Mutterschaft“ begründet worden. „Das wirkt heute sehr erklärungsbedürftig, denn in den vergangenen 30 Jahren hat sich das Verständnis von körperlicher und sexueller Integrität, Autonomie und Gleichberechtigung wesentlich gewandelt. Wenn das Bundesverfassungsgericht neu entscheiden würde, müsste es explizit erläutern, welche Eingriffe dem Staat in die körperliche Integrität einer gebärfähigen Person gestattet sein sollen.“
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