Österreichs Parteiensystem: Aus der Monarchie in die Demokratie

Ohne Parteien gibt es politisch keine Demokratie. Wissenswertes über die Entwicklung der Parteienlandschaft in Österreich, die ihre Wurzeln größtenteils im letzten Vierteljahrhundert der Monarchie hat:
Österreich ist eine sogenannte repräsentative Demokratie – ein Parteiensystem mit mehreren Parteien. Repräsentativ heißt, dass die Wahlberechtigten nicht direkt die politischen Entscheidungen treffen und die Regierung kontrollieren. Sie wählen Vertreter:innen, Repräsentant:innen ihrer politischen Interessen für eine gewisse Zeit in den Nationalrat, Landtag bzw. Gemeinderat sowie in das Europäische Parlament, damit diese an ihrer Stelle ihre politischen Interessen vertreten.
Auf diese Weise repräsentieren der Nationalrat, der Landtag und der Gemeinderat die Interessen der Menschen. Deshalb muss es auch mehr als eine Partei geben (Parteienvielfalt), damit möglichst viele unterschiedliche gesellschaftliche Interessen vertreten werden können. Die Parteien vertreten unterschiedliche Gesellschaftsgruppen und unterscheiden sich daher in ihrem Programm.
Österreichs Parteiensystem – politische Willensbildung
Es gibt hunderte politische Parteien in Österreich, die in unterschiedlicher Intensität aktiv sind. Von überregionaler Bedeutung sind allerdings nur die fünf Parteien, welche die Wahl in den Nationalrat geschafft haben (SPÖ, ÖVP, FPÖ, Die Grünen, NEOS) sowie einzelne bundesweit aktive Kleinparteien (wie die KPÖ und das Liberale Forum). Die aktuelle Mandatsverteilung (Stand: 27.10.2021) in Österreichs Nationalrat:
- ÖVP (71 Mandate)
- SPÖ (40 Mandate)
- FPÖ (30 Mandate)
- Die Grünen (26 Mandate)
- NEOS (15 Mandate)
- Pia Philippa Strache (1 Mandat – ohne Klubzugehörigkeit)
Als eine ihrer Hauptaufgaben wirken Parteien an der politischen Willensbildung der Bevölkerung mit. Somit sind Parteien das wichtigste verbindende Element zwischen den demokratisch bestellten Verfassungsinstitutionen – Parlamenten und Regierungen auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene – und der Bevölkerung. Die meisten politischen Parteien im heutigen Verständnis – mit nennenswerten Mitgliederzahlen und einer dauerhaften Organisation sowie stabilen Fraktionen im Parlament (Parlamentsklubs) – entstanden in Österreich im letzten Vierteljahrhundert der Monarchie:
- Die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der historischen Vorläuferin der SPÖ, in Form einer Einigung unterschiedlicher Strömungen durch Viktor Adler datiert aus dem Jahr 1889.
- Die Christlichsoziale Partei, historische Vorläuferin der ÖVP, wurde 1891 vom späteren Wiener Bürgermeister Karl Lueger gegründet.
- Auf eine noch ältere Tradition können nur liberale und deutschnationale Parteien – historisch die Vorläufer der Deutschnationalen der Ersten Republik und der Freiheitlichen nach 1945 – verweisen. Diese entstanden ab 1867 (Beginn der konstitutionellen Monarchie) im nach einem sehr eingeschränkten Kurienwahlsystem (Einteilung in Wähleklassen und nach Steuerleistung) gewählten Abgeordnetenhaus und bestanden im Wesentlichen aus losen Vereinigungen gleichgesinnter Abgeordneter. Bekanntester und umstrittenster Repräsentant der Deutschnationalen im späten 19. Jahrhundert war Georg Ritter von Schönerer.
- Die jüngsten relevanten Vertreter in Österreichs Parteiensystem sind derzeit Die Grünen (gegründet: 1986) sowie die Partei NEOS (gegründet: 2012).
Österreichs Parteiensystem – erste Wurzeln für die Demokratie
Voraussetzung für die Bildung von Parteien war die Durchsetzung der konstitutionellen Monarchie (die Macht des Königs oder der Königin wird durch eine Verfassung eingeschränkt), die mit der Dezemberverfassung 1867 abgeschlossen wurde. Voraussetzung der Durchsetzung der außerhalb des Parlaments entstandenen Massenparteien gegenüber den liberalen und nationalen „Honoratiorenparteien“ war die Ausweitung des Wahlrechts, das zunächst ein eng begrenztes Kurienwahlrecht war, 1897 um eine allgemeine Wählerkurie erweitert und 1907 durch ein allgemeines und gleiches Wahlrecht für Männer ersetzt wurde. Frauen erhielten erst 1918 das Wahlrecht.
Auch nach 1867 wurden Parteien vom monarchischen Obrigkeitsstaat zunächst polizeistaatlich überwacht und teils vehement bekämpft. Parteien entwickelten sich daher vorerst außerhalb des Vereinsrechts und wiesen anfangs eher lose Organisationsstrukturen auf. Vor dem 1. Weltkrieg waren derartige politische Parteien im Grunde von den monarchischen kontinentaleuropäischen Obrigkeitsstaaten allenfalls geduldet, aber nicht explizit erlaubt. Erst ab Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts waren Parteien zumindest indirekt de facto anerkannt.
Österreichs Parteiensystem – Politik der Ersten Republik
Auf dem Gebiet des heutigen Österreich wurden die Sozialdemokraten und Christlichsozialen bereits vor dem Ersten Weltkrieg die stärksten Parteien. Diese verfügten allerdings nur über geringen tatsächlichen Einfluss: Das Parlament hatte in der konstitutionellen Monarchie keinen Einfluss auf die Bildung der Regierung und war aufgrund von Konflikten unter den Nationalitäten intern zerstritten. Die Politik der Ersten Republik war sehr polarisiert, auch von einem beträchtlichen Ausmaß politisch motivierter Gewalt an der gesellschaftlichen Basis geprägt. Dies kam auch dadurch zum Ausdruck, dass in den 1920er-/1930er-Jahren im Naheverhältnis zu den Parteien bzw. politischen „Lagern“ auch bewaffnete paramilitärische Verbände (Republikanischer Schutzbund, Heimwehren, Frontkämpferverbände) existierten.
Ab 1927 verschärfte sich die Polarisierung zusehends. Ein Zeichen der Radikalisierung war etwa der Brand des Justizpalastes und der Einsatz von Waffengewalt gegen die Demonstranten durch die Polizei mit über 90 Toten und hunderten Verletzten. Insbesondere die Heimwehren, die zeitweilig Koalitionspartner der Christlichsozialen waren, orientierten sich nach dem Vorbild Mussolinis nun offen am Faschismus.
Die Bewältigung der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er-Jahre überforderte angesichts der Polarisierung der Lagerparteien die Problemlösungsfähigkeit der noch jungen Demokratie, und Wahlergebnisse auf Landes- und Gemeindeebene ab 1932 zeigten, dass die bisherigen kleineren deutschnationalen Regierungsparteien ihre Stimmen zunehmend an die NSDAP verloren.
Die christlichsoziale Regierung nützte daher am 3. März 1933 eine Abstimmungspanne im Nationalrat zur Ausschaltung des Parlamentarismus, zur schrittweisen Ausschaltung verfassungsstaatlicher Institutionen und zum schrittweisen Verbot konkurrierender Parteien (1933 zunächst der NSDAP und KPÖ, im Februar 1934 der SDAPÖ). Die Folge war
1934 zwei Bürgerkriege (gegen die Sozialdemokraten im Februar und der NS-Putschversuch im Juli) mit jeweils hunderten Toten. Oppositionelle parteipolitische Tätigkeit war ab 1933 bzw. 1934 nur noch in der Illegalität gegen den „christlichen Ständestaat“ möglich.
Österreichs Parteiensystem – Politik der Zweiten Republik
In dieser Phase wurden Gegensätze nicht mehr offen als Gegensatz von Regierung und Opposition ausgetragen. Stattdessen bildeten ÖVP und SPÖ 1945 eine Große Koalition (bis 1947 unter Einschluss auch der KPÖ). Für diese gemeinsame Politik war hilfreich, dass zahlreiche Spitzenfunktionäre des Jahres 1945 in der Zeit des „Anschlusses“ in deutschen Konzentrationslagern die Erfahrung gemeinsamer Verfolgung durch das nationalsozialistische Deutsche Reich machen mussten.
Wichtig war auch die Notwendigkeit, in dem von 1945 bis 1955 in vier Besatzungszonen aufgeteilten Österreich die staatliche Einheit zu retten und den Wiederaufbau der zunächst zerrütteten Nachkriegswirtschaft zu ermöglichen. Nach Wiedererlangung der völligen Souveränität 1955 entstand etwas, das noch Österreichs Republik teilweise bis heute prägen sollte: die Teilung der Republik in eine „schwarze“ und eine „rote“ Einflusssphäre.
Der Konsens bestand darin, wichtige wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitische Entscheidungen nur gemeinsam zu treffen, wobei in die wirtschaftspolitische Entscheidungsfindung auch die Kammern und der ÖGB (Österreichischer Gewerkschaftsbund) eingebunden wurden: Neben der großen Koalition entwickelte sich eine zunehmend intensive Kooperation der Großverbände in Form der Sozialpartnerschaft.
Österreichs Parteiensystem – Entwicklung des Wahlverhaltens
Immer mehr entstand eine sogenannte „Parteibuchwirtschaft“: In den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik war der Zugang zu Arbeitsplätzen in der Verwaltung oder dem großen Sektor staatlicher Wirtschaftsunternehmen häufig mit der Notwendigkeit einer Parteimitgliedschaft verbunden, dasselbe galt bis in die 1980er Jahre auch für den Zugang zu günstigen Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen.
Erst seit den 1980er Jahren geriet die „Parteibuchwirtschaft“ auf breiter Basis unter starke öffentliche Kritik und wurde auch als Folge der damaligen Krise der verstaatlichten Industrie großteils aufgegeben. Auch das Wahlverhalten von Österreichs Wählern entwickelte sich stetig: In den 1950er bis 1970er Jahren war das Wahlverhalten der österreichischen Bevölkerung sehr stabil, Wahlergebnisse brachten Verschiebungen der Stimmanteile von wenigen Prozentpunkten. Aus dem Beruf, Einkommen und Faktoren wie aktiver Einbindung in katholische Milieus oder Gewerkschaftsmitgliedschaft konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das Wahlverhalten vorhergesagt werden. Kurz formuliert, wählten Bäuerinnen bzw. Bauern und Selbständige sowie aktive Katholik:innen mit hoher Wahrscheinlichkeit ÖVP, Arbeiter:innen, konfessionell schwach gebundene Personen bzw. Konfessionslose sowie Gewerkschaftsmitglieder überwiegend SPÖ.
Bei Angestellten und Beamt:innen bestimmte v. a. die Höhe des Einkommens und damit der formale Bildungsgrad die Präferenz für ÖVP oder SPÖ. Dieses festgefügte Wahlverhalten kam ab den 1980er-Jahren zunehmend in Bewegung, besonders stark ausgeprägt war dies unter jüngeren Altersgruppen. Neu positionierte (FPÖ) und neue (Grüne) Parteien erreichten ähnliche und schließlich höhere Stimmenanteile unter Erst- und Jungwählern. 1999 konnte etwa die FPÖ bei unter 30-Jährigen beinahe gleich hohe Wähleranteile verzeichnen wie SPÖ und ÖVP gemeinsam.
Österreichs Parteiensystem – Organisation der Parteien
Einige der in Österreich etablierten Parteien sind Großorganisationen, deren Angestelltenzahl und finanzieller Umsatz durchaus mit Großunternehmen vergleichbar sind. Zugleich sind Parteien aber Freiwilligenorganisationen, die maßgeblich auf unentgeltliche Mitarbeit ihrer Mitglieder und Funktionäre angewiesen sind. Die Organisationssoziologie moderner Parteien weist somit eine hybride Natur auf: Sie sind gleichermaßen ehrenamtliche Organisationen wie auch hauptberuflich betriebene spezialisierte Agenturen des Machterwerbs, wie an professionellen und kostenintensiven Wahlkämpfen sowie permanenter Öffentlichkeitsarbeit abgelesen werden kann. Am Beispiel der jahrzehntelang größten Parteien Österreichs kann ein Blick hinter die Kulissen von Österreichs Parteiensystem geworfen werden:
Bis 1972 war innerhalb der ÖVP automatisch mit der Mitgliedschaft in einer Teilorganisation (z. B. Wirtschaftsbund, Bauernbund und ÖAAB) eine Parteimitgliedschaft verbunden und sogar nur auf diesem Umweg möglich. Erst seit den 1980er-Jahren muss auch ausdrücklich der ÖVP selbst formell beigetreten werden. Bis heute werden bei der ÖVP die Mitglieder fast ausschließlich durch die Teilorganisationen erfasst und betreut, die Funktionäre haben in diesen ihre politische „Hausmacht“, das innerparteiliche Leben spielt sich großteils in den „Bünden“ ab. Diese bündische Struktur erschwert eine „realistische“ Bestimmung der Zahl der ÖVP-Mitglieder – Berechnungen reichen von einer Mindestzahl einer halben Million bis deutlich über eine Dreiviertelmillion.
Die Mitgliedschaft der SPÖ ist direkt organisiert und durch die Einforderung des Mitgliedsbeitrags auch verbindlich bestimmbar: Von ihren Höchstständen bis zu 720.000 Ende der 1960er und Ende der 1970er Jahre hat die SPÖ besonders ab den 1990er Jahren starke Rückgänge zu verzeichnen gehabt. 2009 lag die Mitgliederzahl „nur“ mehr bei knapp über einer Viertelmillion. Allerdings hat auch die SPÖ Nebenorganisationen: Die Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter:innen, die Junge Generation (Unter-38-Jährige) und die SPÖ Frauen sind die wichtigsten Beispiele, die auch über Entsenderechte für Parteitage und innerparteiliche Organe verfügen.
Von Wolfgang Wonesch