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Günstiger Wohnbau: 8 Dinge, die deutsche Städte von Wien lernen können

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Von: Laura May

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Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál (SPÖ) und der Karl-Marx-Hof.
Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál (SPÖ) und der Karl-Marx-Hof. © Martin Votava/imago/Panthermedia/buzzfeed

Immobilien sind profitable Spekulationsobjekte. In vielen Städten mutiert Wohnen deshalb zum Luxusgut und Mietpreise explodieren. Wien geht aber einen anderen Weg.

Stuck statt Sichtbeton. Fünf-Meter-hohe Decken statt Fünf-Quadratmeter-Zimmer. Teilzeitlohn statt 60-Stunden-Wochen, um deine Miete zu zahlen. In Wien ist das möglich – doch auch hier wird alles noch teurer.

Inflation, Indexverträge und Energiekrise verschonen die Mieter:innen der österreichischen Hauptstadt nicht. Im Vergleich zu absurden Wohnungsangeboten in München, Hamburg oder Berlin ist der Immobilienmarkt in Wien allerdings recht stabil. Im Gespräch mit BuzzFeed Austria erklärt Wiens Vizebürgermeisterin und Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál (SPÖ), woran das liegt – und was Deutschland hier von Österreich lernen kann.

1. Rotes Wien: 100 Jahre Wohnpolitik für alle

Wiener:innen wohnen heute günstig, weil vor knapp 100 Jahren Wohnpolitik dafür gemacht worden ist. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten rund 300.000 Menschen der zwei Millionen Wiener Einwohner:innen keine Wohnung. 1919 starteten die damals frisch gewählten Sozialdemokraten deshalb eine Wohnbauoffensive und begründeten damit das Rote Wien. So wird die Zeit von 1919 bis 1934 bezeichnet, als die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs (SDAP) die absolute politische Mehrheit in der Stadt hatte. „Das alles passierte damals mit der Vision einer Stadt, die für alle da ist“, sagt Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál.

Sie erklärten Wohnen zum Grundrecht. 1923 wurde im Metzleinstaler Hof im 5. Bezirk der Grundstein für den ersten Wiener Gemeindebau gelegt. Bis 1933 entstanden durch die rote Offensive rund 30.000 neue und bezahlbare Appartements. Auch zahlreiche Maßnahmen des Mieterschutzes gehen auf diese Zeit zurück. Die politischen Entscheidungen der Zwischenkriegszeit prägen heute noch den Wiener Wohnungsmarkt.

2. 420.000 Sozialwohnungen: Gemeindebau und geförderter Wohnbau

Heute gibt es in Wien rund 420.000 geförderte Wohnungen – davon sind rund 220.000 Gemeindewohnungen. Zusätzlich gibt es rund 200.000 geförderte Wohnungen, die von gemeinnützigen Trägern mithilfe der Wohnbauförderung gebaut und verwaltet werden.

Für Mieter:innen bedeutet das: Alle 420.000 Objekte haben gedeckelte Mieten und unbefristete Verträge. Außerdem müssen Mieter:innen keine Provision zahlen. Die Unterkünfte ergeben fast die Hälfte der Wiener Wohnungen insgesamt – über 60 Prozent der Wiener:innen leben darin. „Damit können wir als Stadt das Wohnungsangebot und die Mietpreise steuern und müssen nicht alles dem Markt überlassen“, erklärt Gaál.

3. Soziale und geografische Durchmischung: Keine Ghettos oder Luxusviertel

Der Gemeindebau in Wien ist nicht auf bestimmte Viertel beschränkt. Über die ganze Stadt entstanden soziale Wohnbauten. Das führt bis heute zu einer sozialen und geografischen Durchmischung in der Stadt. „Das Besondere in Wien ist, dass man an der Adresse nicht sieht, wie viel jemand verdient“, sagt Wohnbaustadträtin Gaál. 

Das Besondere in Wien ist, dass man an der Adresse nicht sieht, wie viel jemand verdient

Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál

Ein weiterer wichtiger Unterschied in der Wiener Wohnpolitik ist der Zugang für eine breite Bevölkerung. „75 Prozent aller Wiener:innen haben Zugang zum sozialen Wohnbau“, sagt Gaál. Die Einkommensgrenzen sind vergleichsweise hoch, auch die Mittelschicht hat Zugang zu leistbaren Wohnungen. Eine Einzelperson kann bis zu 3.810 Euro netto monatlich verdienen, ohne ihren Anspruch auf eine geförderte Wohnung zu verlieren. Das hat zur Folge, dass das Leben in Sozialwohnungen normalisierter ist als in Deutschland und kein Graben zwischen Luxusvierteln und Ghettos entsteht. „Wien wird oft für die soziale Durchmischung beneidet“, bestätigt Gaál. Sozialwohnungen sind in Wien normaler als in deutschen Städten. 

4. Politischer Wille: Spekulation verhindern, Immobilienhaie einbremsen

Anspruch statt Almosen: „Wohnen ist ein Grundrecht und keine Handelsware“, sagt Gaál und formuliert damit das österreichische Erbe der Zwischenkriegszeit. Während viele europäische Städte in den 1990er Jahren ihren kommunalen Wohnbau verkauft haben, habe Wien erfolgreich darauf bestanden, nicht zu privatisieren. „Damit halten wir die öffentliche Hand schützend über den Wohnungsmarkt“, sagt Gaál. „Denn wenn die Wohnungen erst einmal weg sind, hat man als Stadt nur noch einen sehr kleinen Hebel in der Hand, positiv auf die Mietpreise einzuwirken.“

Denn auch in Wien gibt es Spekulation. Der Wiener Wohnungsmarkt ist nicht sozialistisch – es gibt einen großen privaten Immobilienmarkt, auf den die Stadt keinen Einfluss hat. Und auch in Wien spekulieren internationale Investoren auf dem Wohnungsmarkt. Auch hier stiegen Boden- und Baupreise stetig. Das bestätigt auch Wohnbaustadträtin Gaál: „Wien ist interessant für Immobilienhaie – aber dafür stehen wir als Stadt nicht.“

Wien handelt im Gegensatz zu vielen deutschen Städten allerdings, damit Investoren die Mieten nicht nach oben treiben. Eine Maßnahme ist die neue Wiener Bauordnung aus dem Jahr 2018. Durch die neue Widmungskategorie „geförderter Wohnbau“ will Wien die Quote leistbarer Wohnungen steigern. „Unser Ziel war es, Grundstückspreise zu dämpfen und Spekulationen zu erschweren“, sagt Gaál. Die ÖVP kritisierte die Maßnahme als „retrosozialistische Kampfansage“.

5. Finanzierung: Eine Steuer für die Allgemeinheit

Wie kann Wien diese scheinbare Mieter-Utopie bezahlen? Diese Frage stellen sich Menschen in München oder Berlin. „Es ist ein politisches Bekenntnis“, sagt Gaál. Sie sieht den sozialen Wohnungsmarkt als öffentliche Aufgabe.

Mit Bekenntnissen allein ist aber das günstige Wohnen nicht finanziert. Eine Stellschraube zur Finanzierung ist der Wohnbauförderbeitrag. Er wird in Form einer Steuer eingenommen und beträgt ein Prozent vom Lohn, wobei Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen jeweils 50 Prozent tragen. Investiert wird das Geld in Neubau, Sanierung und Subjektförderung wie etwa die Wohnbeihilfe. 

6. Quartiersentwicklung: Ein ganzes Viertel für Alleinerziehende

„Mir ist wichtig, dass wir nicht nur Wohnungen bauen, sondern auch gleich die ganze Infrastruktur schaffen“, sagt Gaál über das Wiener Stadtplanungskonzept. Deshalb werden nicht nur einzelne Häuser geplant, sondern ganze Stadtviertel, in denen die Menschen wohnen, arbeiten und entspannen können. Beispiele für diese sogenannten Quartiersentwicklungen sind etwa die Seestadt, das Sonnwendviertel oder das Nordbahnviertel.

Dabei spielen vier Säulen eine Rolle: Vor rund zehn Jahren wurde „Soziale Nachhaltigkeit“ im Bauträgerwettbewerb als vierte Kategorie neben „Architektur, „Ökonomie“ und „Ökologie“ eingeführt. Je nach Viertel gibt es Schwerpunkte. Das Quartier an der Wolfganggasse im 12. Bezirk hat seinen Fokus etwa auf Alleinerziehende. Dementsprechend gibt es dort Übernachtungsmöglichkeiten für Großeltern, flexible Raumaufteilung, einen Kindergarten und Gemeinschaftsräume.

Bei politischen Bekenntnissen gegen Privatisierung und der Quartiersentwicklung für bestimmte Bedürfnisse geht es nicht nur um Wohnraum, sondern auch um Räume und Plätze in der Stadt, zu denen alle Zugang haben. „Der öffentliche Raum hat viel mit Gemeinschaft zu tun“, sagt Amila Širbegović, Projektleiterin bei der MA50 (Magistrat für Wohnbauförderung und Schlichtungsstelle für wohnrechtliche Angelegenheiten).

7. Investition in die Zukunft: Immer weiter sozialen Wohnraum schaffen

Neben dem geförderten Neubau und schafft Wien seit 2015 auch wieder neue Gemeindebauten. 5500 neue Gemeindewohnungen sind seither auf den Weg gebracht worden. Auch die Sanierung von Häusern aus der Gründerzeit soll den Wohnungsmarkt der Zukunft sichern.

Finanziell unterstützt werden etwa bauliche Maßnahmen wie Wärmedämmung, die Erneuerung von Fenstern und Außentüren wie auch der Umstieg auf erneuerbare Energieträger. Private Besitzer:innen alter Häuser sollen so motiviert werden, die Gebäude klimafit zu machen. 

Außerdem sichert sich die Stadt über den Wohnfonds Grund, um leistbare Wohnungen zu schaffen. Wien versucht also auch heute noch, die Kontrolle über möglichst viel Wohnraum und Boden zu behalten. „Dort, wo wir positiv auf die Mietpreise einwirken können, tun wir das“, sagt Gaál.

8. Öffentlicher Raum: Leerstandsnutzung und kreative Räume für alle

Die Stadt Wien fördert die niederschwellige Entwicklung von Freiräumen in der Stadt. Wer die Stadt mitgestalten möchte, findet schnell Anschluss und Unterstützung. Das passiert auf verschiedenen Ebenen: Die Kreativen Räume Wien vermitteln leerstehende Gebäude zur Zwischennutzung. Die Grätzeloase unterstützt Initiativen, die mehr Aufenthaltsqualität in der Stadt schaffen. Die Wiener Stadtgärten fördern zur Hebung der Lebensqualität ausgewählte Nachbarschaftsgartenprojekte.

Wir müssen schauen, dass uns der öffentliche Raum bleibt – das gehört zur DNA dieser Stadt

MA50-Projektleiterin Amila Širbegović

MA50-Projektleiterin Širbegović bestätigt den Stellenwert dieser Räume in Wien: „Wir müssen schauen, dass uns der öffentliche Raum bleibt – das gehört zur DNA dieser Stadt.“ Offen zugängliche und konsumfreie Orte in einer Großstadt fördern das Miteinander und die soziale Nachhaltigkeit.

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