Klima: Reform des umstrittenen Energiecharta-Vertrags droht zu scheitern

Die EU-Staaten drohen mit einer Reform des umstrittenen Energiecharta-Vertrags (ECT) zu scheitern. Das zeigen aktuelle Recherchen von Investigate Europe und Ippen Investigativ*.
Von Maxence Peigné, Nico Schmidt und Harald Schumann, Investigate Europe
Der kaum bekannte Vertrag bedroht die EU-Klimaziele, denn er könnte die Mitgliedstaaten hunderte Milliarden Euro kosten, wenn sie ambitionierte Maßnahmen gegen die Klimakrise ergreifen. Dies zeigte Anfang des Jahres eine monatelange Recherche von Investigate Europe und Ippen Investigativ.
Nun zeigen interne Unterlagen, die Investigate Europe vorliegen, dass die EU-Staaten mit einer Reform des Vertrags zu scheitern drohen. Auch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, dass der ECT nicht vereinbar mit EU-Recht sei, scheint kaum Auswirkungen zu haben.
Energiecharta-Vertrag bedroht die Klimaziele der EU
Der Energiecharta-Vertrag ist ein kaum bekanntes Investitionsschutzabkommen. Anfang der 1990er Jahre unterschrieben alle EU-Staaten, auch Deutschland, dieses Abkommen, um Investitionen in den sogenannten „neuen Demokratien“ im Osten Europas und in Zentralasien abzusichern. Mittlerweile haben 55 Vertragsparteien unterschrieben, auch Länder auf dem Balkan, in Vorderasien und in Fernost sind dabei. Doch der Vertrag hat Recherchen von Investigate Europe und Ippen Investigativ zufolge eine Reihe von Problemen.
Der Vertrag ist einseitig, nur Unternehmen können Staaten verklagen. Zudem ist der Vertragstext schwammig formuliert: Investoren können klagen, wenn sie sich „unfair“ behandelt fühlen. Allein in Europa schützt der Vertrag fossile Infrastrukturen im Wert von 344,6 Milliarden Euro, zeigten die Recherchen Anfang des Jahres. Erste Beispiele machen deutlich, dass Investoren den Vertrag nutzen, um EU-Staaten einzuschüchtern und Entschädigungen in Milliardenhöhe zu fordern. Aus Angst davor schwächte Frankreich sogar präventiv ein Klimagesetz ab, dass die Förderung von fossilen Energieträgern verbieten sollte.
Klimakrise: Reformprozess des Vertrages läuft schon seit 2017
Deshalb will die EU-Kommission den Energiecharta-Vertrag modernisieren. Bereits im Jahr 2017 wurde ein Reformprozess gestartet. Doch der droht nun zu scheitern. Seit 2019 haben die beteiligten Ländern insgesamt acht mal über eine Reform verhandelt. Doch die Ergebnisse sind niederschmetternd. Investigate Europe liegen mehrere interne Dokumente aus dem Rat der EU vor, in dem Vertreter der EU-Staaten ihre Verhandlungsposition abstimmen. Die vertraulichen Protokolle zeichnen ein düsteres Bild.
Im Rahmen der Modernisierungsgespräche wollte die EU-Kommission dafür sorgen, dass der Energiecharta-Vertrag künftig keine fossile Infrastruktur mehr schützt. Auch sollte der schwammige Vertragstext präzisiert werden. Doch bei diesen Vorhaben konnte die EU bisher kaum Fortschritte erzielen. Während einer Sitzung der zuständigen Arbeitsgruppe im November 2021 nannte die Kommission die Verhandlungsfortschritte laut interner Unterlagen „teils enttäuschend“. In einer anderen Sitzung sagte die Kommission die Verhandlungen seien „kein einfacher Prozess“ und „können offensichtlich mehrere Jahre“ dauern. Einen genauen Zeitplan gibt es nicht.
Interne Unterlagen: EU will Schutz fossiler Energie aufheben, andere Länder blockieren
In den geheimen Gesprächen stockt es gewaltig, weil einige Staaten wie Japan oder Kasachstan sich massiv gegen die Vorschläge der EU wehren. Das Problem: Einer finalen Revision der Energiecharta müssen alle 55 Vertragsparteien zustimmen.
Einen ersten Vorschlag der EU-Staaten, den Schutz umweltschädlicher Investitionen schrittweise aufzuheben, lehnten alle anderen Vertragsparteien ab. Nun diskutieren die Staaten eine zweite „flexible“ Lösung, die es den EU-Staaten erlauben würde, den Schutz fossiler Energieträger aufzuheben, während er in anderen Vertragsstaaten weiter gelten könnte. Aber Japan und Kasachstan schließen einen schnellen Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas kategorisch aus – und blockieren damit sogar solche Veränderungen, die nur EU-Länder betreffen würden.
„Wir verstehen, dass wir Klimaneutralität erreichen müssen“, sagt der Diplomat eines asiatischen Staates, der an den Modernisierungsgesprächen teilnimmt, im Gespräch mit Investigate Europe. „Aber wir müssen auch für Versorgungssicherheit sorgen, deshalb wissen wir nicht, wann die fossilen Brennstoffe aus dem Vertrag genommen werden können.“
Wegen der Klimakrise: EU-Länder wollen komplett aus dem Energiecharta-Vertrag aussteigen
Wegen der Blockade drängen mehrere EU-Staaten nun darauf, komplett aus dem Energiecharta-Vertrag auszutreten. „Die Fortschritte bei den Verhandlungen sind überschaubar“, schreibt ein polnischer Diplomat auf Anfrage von Investigate Europe. „Viele Staaten sind der Ansicht, dass die Chancen auf eine akzeptable Einigung eher gering sind.“ Laut interner Unterlagen fordert Polen gemeinsam mit Frankreich, Spanien, Griechenland, Lettland, Ungarn und Zypern, dass die Kommission einen Plan für einen möglichen Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag erarbeiten müsse. Paris und Madrid fordern außerdem ein klares Datum für den Ausstieg, falls es bei den aktuellen Verhandlungen keinen Durchbruch geben sollte.
Doch ein vollständiger, unmittelbarer Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag ist faktisch unmöglich. Eine Klausel im Abkommen legt fest, dass bestehende fossile Infrastruktur nach einem Austritt noch weitere 20 Jahre geschützt bleibt. Was das bedeutet, wird am Beispiel Italien deutlich. Das Land hat den Energiecharta-Vertrag 2016 verlassen. Wenig später verklagte das britische Unternehmen Rockhopper den italienischen Staat, weil die Behörden Offshore-Bohrungen verboten hatten. Rockhopper will 240 Millionen Euro von Italien. Das Urteil steht aus.
Urteil des Europäischen Gerichtshofes zu Energiecharta-Vertrag offenbar nicht bindend
Kritiker des Energiecharta-Vertrages hatten gehofft, dass ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) aus dem September dabei helfen könnte, die Probleme mit dem Vertrag zu lösen. In ihrem Urteil stellten die Richter fest, dass Energiecharta-Verfahren, in denen ein Investor aus der EU gegen einen EU-Staat klagt, nicht vereinbar mit EU-Recht sind. Ein Großteil der Energiecharta-Streitigkeiten betrifft solche sogenannten „Intra-EU-Verfahren“. Doch ob das Urteil des EuGH wirklich etwas ändern wird, ist fraglich. Das sagen zumindest mehrere Jurist:innen im Gespräch mit Investigate Europe.
„Die Zeit der Intra-EU-Verfahren ist mit dem EuGH-Urteil keinesfalls vorbei“, warnt Investitionsschutzexperte Markus Krajewski von der Universität Erlangen-Nürnberg. Da sich Schiedsgerichte auf das Völkerrecht und nicht EU-Recht beziehen, könnten sie das EuGH-Urteil als „nicht relevant“ ansehen, sagt Krajewski. Einen Schiedsspruch könnte der Investor dann in einem Staat außerhalb der EU durchsetzen.
Das glaubt auch die Professorin für Europarecht an der Universität Amsterdam, Christina Eckes. „Die Investoren werden Schiedsgerichte außerhalb der EU nutzen“, sagt sie. „Die Unternehmen können sich nach einem Schiedsspruch an Gerichte außerhalb der EU wenden, um ihre Ansprüche in Drittstaaten durchsetzen und dort Staatseigentum pfänden zu lassen.“
Klima-Verfahren landen schon heute häufig vor Schiedsgericht in Washington
Bereits heute wird ein Großteil der Energiecharta-Verfahren außerhalb der EU durchgeführt, etwa in Washington vor dem Schiedsgericht des Internationalen Zentrums zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID). Auf Anfrage schreibt das ICSID tatsächlich, dass das EuGH-Urteil möglicherweise ohne Folgen bleiben werde. Es gäbe keine Bestimmungen, um die Aufnahme neuer Intra-EU-Verfahren zu stoppen.
Auch Investoren aus der EU, die momentan gegen EU-Staaten klagen, gehen davon aus, dass die EuGH-Entscheidung keine Folgen für sie haben wird. Die Energiekonzerne RWE und Uniper teilten mit, dass das Urteil keine Auswirkung auf ihre laufenden Verfahren gegen die Niederlande haben dürfte. Die deutschen Unternehmen klagen gegen den niederländischen Kohleausstieg und fordern Entschädigungszahlungen in Höhe von bis zu einer Milliarde Euro.
Umso mehr schauen alle Beteiligten auf den laufenden Reformprozess. Investigate Europe hat die EU-Kommission sowie zahlreiche Staaten angefragt. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten „setzen sich nachdrücklich für eine Reform ein“, heißt es von der Kommission. Das deutsche Wirtschaftsministerium schreibt, der ECT dürfe „nicht im Widerspruch zum Klimaschutz oder der Energiewende angewendet werden. Beim Investitionsschutz sind zahlreiche Klarstellungen und Präzisierungen notwendig.“
Bis zum Juni 2022 will die EU einen fertigen Vertragstext auf dem Tisch haben. In Gesprächen mit Investigate Europe bezweifeln beteiligte Diplomaten jedoch, dass es bis dahin zu konkreten Beschlüssen kommen wird.*Ippen Investigativ ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA
---
Sie haben selbst Missstände erlebt oder Hinweise und Dokumente zu Machtmissbrauch, die unser Rechercheteam interessieren könnten? Wenden Sie sich vertraulich an recherche@ippen-investigativ.de.
„Investigate Europe“ ist ein europäisches Journalistenteam, das gemeinsam Themen von europäischer Relevanz recherchiert und europaweit veröffentlicht. IE wird von seinen Lesern sowie von folgenden Stiftungen unterstützt: Schöpflin-Stiftung, Rudolf-Augstein-Stiftung, Fritt Ord Foundation, Open Society Initiative for Europe, Gulbenkian Foundation, der Adressium Foundation und der Reva and David Logan Foundation. Mehr gibt es auf der Seite von Investigate Europe.